Die Schweiz ist in einer Biodiversitätskrise

02.12.22

Wer wäre besser geeignet, um über Natur und Landschaft zu sprechen, als Pro Natura Direktor Urs Leugger-Eggimann? Im Interview zeigt er den direkten Zusammenhang zwischen Biodiversität und Landschaftspflege auf. Biodiversität gibt es vorwiegend auf dem Land, wo Ackerland bewirtschaftet wird. Es ist wichtig, Lebensräume zu erhalten und nicht ständig neue Gebäude im Eiltempo ausserhalb der Bauzone zu errichten.

Foto Urs Leugger-Eggimann

Urs Leugger, Geschäftsleiter Pro Natura Schweiz und Mitglied des Initiativkomitees der Landschaftsinitiative

Was sehen Sie, wenn Sie Ihren Blick über die Schweizer Landschaft schweifen lassen? 

Urs Leugger: die Schweizer Landschaft ist sehr vielfältig. Wenn ich in der Nähe meines Wohnorts an der Birs entlangspaziere, sehe ich das Wasser und die Lebewesen, die sich in diesem Gebiet wohlfühlen. Ich sehe auch die Menschen, die diese Landschaft als Erholungsraum nutzen. Für mich ist das ein sehr wichtiger Aspekt von freien, naturbelassenen Flächen zwischen den Siedlungsgebieten. Wir haben in der Schweiz das grosse Glück, dass der Weg in die Natur nie weit ist, auch nicht für Menschen, die mitten in der Stadt wohnen. Das ist ein grosser Trumpf, und einer der Gründe, weshalb die Schweiz und die Schweizer Städte in Rankings zur Lebensqualität immer gut abschneiden. Diesen Trumpf sollten wir unbedingt bewahren – nicht nur wegen der Bedeutung für die Erholung: auch die Biodiversität, Lebensgrundlage von uns allen, ist auf den Erhalt und die Förderung von naturnahen Flächen angewiesen.  

Sie engagieren sich beruflich an höchster Stelle für den Schutz der Landschaft und der Biodiversität. Wie stark sind diese beiden Aspekte verknüpft?  

Die Schweiz ist in einer Biodiversitätskrise. Über ein Drittel der Tier- und Pflanzenarten und fast die Hälfte der Lebensraumtypen hierzulande sind bedroht. Lediglich auf einem sehr kleinen Teil von nicht einmal sechs Prozent der Landesfläche geniesst die Natur einen umfassenden Schutz, sei es in nationalen Schutzgebieten oder in kantonalen und lokalen Naturschutzgebieten. Die Fläche, in der sich die Natur entfalten kann, muss deutlich grösser werden, damit wir das Überleben von vielen Tier- und Pflanzenarten sichern können. Es liegt auf der Hand, dass eine zubetonierte Landschaft nicht gut ist für die Biodiversität. Kurz und einfach ausgedrückt: Um die Biodiversität zu stärken, brauchen wir zwingend auch einen wirksamen Landschaftsschutz. Wenn die Landschaft weiterhin praktisch ungebremst zugebaut wird, bleibt das für die Biodiversität nicht ohne Folgen.

Nicht nur der Mensch gestaltet seine Umwelt. Der Baumeister Biber, für den sich Pro Natura seit jeher stark macht, ist mit seiner bauenden und grabenden Tätigkeit ein wichtiger Akteur für natürliche Flüsse und vielfältige Landschaften. Ganz im Gegensatz zu unserer hektischen Bauwut, die negative Auswirkungen beschleunigt. Hat der Biber etwas verstanden, das wir nicht begreifen? 

Der Biber handelt in seiner Einflusszone, wir müssen in der unsrigen handeln. Wir dürfen unsere Fähigkeit, negative Entwicklungen umzukehren, nicht unterschätzen.  Naturnahe, lebendige Gewässer zum Beispiel, in denen sich auch der Biber wohlfühlt, benötigen genügend Raum. Wenn wir unseren Gewässern wieder mehr Raum zurückgeben, in dem sie sich als Lebensgemeinschaft entfalten können, ist das gleichzeitig eine sehr effektive und kostengünstige Massnahme zum Schutz vor Hochwassern. Das Zubetonieren von Böden hingegen, die Regenwasser schlucken können, wirkt in die entgegengesetzte Richtung. Wenn Böden versiegelt sind, können sie das Wasser nicht mehr zurückhalten. Das überschüssige Wasser fliesst dann sehr schnell an einem Ort zusammen; das Risiko für Überschwemmungen und Hochwasser steigt. Mit dem Klimawandel werden intensive Regenereignisse in der Schweiz häufiger auftreten, das ist heute schon zu beobachten. Um die negativen Auswirkungen zu verringern, ist es von grosser Bedeutung, dass die Zubetonierung von Böden ausserhalb der Bauzonen gebremst wird. Dies ist ein wichtiges Ziel der Landschaftsinitiative.  
 

Sie haben sich in Ihrer Studienzeit intensiv mit dem Schicksal des Neuntöters befasst. Der Bestand dieses Zugvogels hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren auf heute noch 10’000 – 15’000 brütende Paare halbiert. Steht dies im Zusammenhang mit dem tiefgreifenden Wandel unserer Landschaft? 

Der Neuntöter benötigt reich strukturierte Landschaften mit Hecken und Einzelbüschen als Sitzwarte und Nistplatz. Auch Magerwiesen und extensiv genutzte Weiden mit vielen Insekten sind wichtig für ihn, da er sich hauptsächlich von Heuschrecken, Grillen, Käfern sowie kleinen Wirbeltieren ernährt. Durch die intensive Landwirtschaft wurden bereits in den 1960er-Jahren Hecken und Buschgruppen im Kulturland ausgeräumt, mit verheerenden Folgen für den Neuntöter. Zudem wurden Magerwiesen, Säume und extensiv genutzte Böschungen oder Feldränder immer stärker gedüngt und mit Pestiziden gespritzt. Der Strukturreichtum ging ebenso massiv zurück wie der Insektenreichtum, und damit die Nahrung des Neuntöters. Mit gravierenden Folgen für dessen Bestand.

Wie können wir den Trend umkehren?  

In der Schweiz ist die Biodiversität im Kulturland besonders stark unter Druck; entsprechend ist der Anteil der Brutvogelarten auf der Roten Liste im Kulturland besonders hoch. Damit sich der Bestand des Neuntöters erholen kann, braucht es wieder ein Netz von Hecken, Büschen und mageren Standorten mit einer reichen Pflanzenvielfalt und vielen Insekten in der Kulturlandschaft. Die Landschaftsinitiative trägt einen Teil dazu bei, um das wieder zu ermöglichen. Sie will den Verlust von Kulturland durch das übermässige Bauen ausserhalb der Bauzone stoppen. Die Landschaftsinitiative hilft, die Biodiversität zu erhalten und zu fördern und dient so auch dem Neuntöter und vielen anderen Vogelarten, die in der Schweiz glücklicherweise immer noch anzutreffen sind.

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