Vernetzte Lebensräume

10.03.23

Die Natur braucht genügend Raum, um sich zu entwickeln. Das ist die Meinung von Werner Müller, dem ehemaligen Direktor von BirdLife Schweiz und Mitglied des Initiativkomitees. Er sieht die Biodiversität, aufgrund von zu starken menschlichen Eingriffen, bedroht. Um die Biodiversität zu schützen, müssen die Anzahl der Gebäude ausserhalb der Bauzone reglementiert werden. Zum Wohle der Natur, der Landschaft und der Menschen. 

 

Werner Müller

Werner Müller, Ehermaliger Geschäftsleiter BirdLife Schweiz, Mitglied des Initiativkomitees

Herr Müller, Sie waren über 42 Jahre lang Geschäftsführer von BirdLife Schweiz. Welche Veränderung der Landschaft in der Schweiz haben Sie über diesen Zeitraum festgestellt ?  

Werner Müller: Die Schweiz wird immer intensiver genutzt. Die Siedlungen haben sich stark ausgedehnt. Die Verkehrsflächen haben sich vervielfacht. Und die Zahl der Bauten ausserhalb des Baugebiets hat rasant zugenommen. Als ich Ende der 1970er-Jahre im Naturschutz zu arbeiten begann, war es noch möglich, ganze Moore zu zerstören. Dies, obwohl die wertvollen Lebensräume bereits damals auf kleine Reste ihrer ursprünglichen Flächen reduziert waren. Ich habe noch die Zerstörung des Steinmaurer Rieds im Zürcher Unterland erlebt. Erst die Annahme der Rothenthurm-Initiative 1987 (Volksinitiative) mit 58 Prozent Ja-Stimmen, hat die Moor-Zerstörung gestoppt. Die massive Ausdehnung der Bauzonen war das Thema der ersten Landschaftsinitiative im Jahr 2008. Den damaligen Gegenvorschlag hat das Volk fünf Jahre später mit 63 Prozent der Stimmen angenommen. Das Bauen ausserhalb der Bauzonen ist bisher nicht gelöst, deshalb ist die neue Landschaftsinitiative sehr wichtig und dringend. Die Überbauung der offenen Schweiz schreitet stark voran.

 

Wie können wir die Schweizer Biodiversität, trotz der durch Menschen intensiv genutzten Landschaft, erhalten?  

Die Schweiz braucht genügend unüberbaute Gebiete und mehr für die Biodiversität gesicherte Flächen. Die zukünftigen Generationen werden uns für jede Fläche, die wir jetzt nicht auch noch bereits überbaut oder durch intensive Nutzung zerstört haben, dankbar sein. Konkret muss erstens die ganze Fläche möglichst biodiversitätsverträglich genutzt werden. Dabei ist die Sicherung unüberbauter Räume von besonderer Bedeutung. Zweitens braucht es genügend Vorrangflächen für die Biodiversität. Gerade bei den Schutzgebieten ist unser Land das Schlusslicht in ganz Europa. Und drittens gibt es gefährdete und prioritäre Tier-und Pflanzenarten, die zusätzlich ganz spezifische Massnahmen benötigen. Zudem sind weniger Gifte und überschüssige Nährstoffe eine Voraussetzung, dass es der Natur wieder besser gehen kann. 

Warum kann die Trennung von Bauzonen und Nichtbaugebiet die Bedingungen für die Biodiversität verbessern?    

Die Natur braucht ganz generell unbebaute Flächen. Es gibt zwar einige Tier- und Pflanzenarten, die in Siedlungen vorkommen, wenn sie naturnah gestaltet sind. Gerade auch für die Bevölkerung, für das Naturerlebnis von Kindern, ist die Förderung der Biodiversität in den Städten, Agglomerationen und Gemeinden wichtig. Die meisten gefährdeten Arten brauchen jedoch genügend Lebensraum ausserhalb des Siedlungsraums. Viele meiden die Nähe des Menschen oder brauchen vernetzte Lebensräume. Jede Baute ausserhalb des Baugebiets zerschneidet die Landschaft und braucht wiederum eine Erschliessung mit Strassen. Das ist ein Teufelskreis: Die Zersiedlung ist zusammen mit der Intensivierung der Landnutzung vor allem durch die industrielle Landwirtschaft der Hauptgrund für die aktuelle Biodiversitätskrise der Schweiz. Ein Stopp der weiteren Zunahme der Bauten ausserhalb der Bauzonen verbessert allein die Bedingungen für die Biodiversität noch nicht gross, aber er ist eine entscheidende Voraussetzung dafür.  

Warum will die Landschaftsinitiative mit Raumplanungsregeln eingreifen? Könnte man nicht einfach Schutzgebiete vergrössern, um bedrohte Arten zu retten?  

Bei der Landschaftsinitiative geht es nicht hauptsächlich um bedrohte Arten. Für diese ist die Zunahme der Bauten ausserhalb der Bauzonen aber auch sehr schädlich. Der Bauboom stellt die Natur und den Menschen im ländlichen Raum ganz grundsätzlich vor ernsthafte Probleme. Für den Menschen bewirkt er den Verlust von Erholungsraum und nimmt den künftigen Generationen Entwicklungsmöglichkeiten. Offenes Land als Kulturland oder Schutzgebiet verschwindet. Schutzgebiete zu vergrössern, ist generell sehr schwierig geworden, Bauten ausserhalb der Baugebiete – mittlerweile befinden sich fast 40 Prozent der bebauten Flächen ausserhalb der Bauzonen – erschweren es zusätzlich.   

Warum ist die Landschaftsinitiative gerade jetzt wichtig?   

Die Zahl der Gebäude ausserhalb der Siedlungen nimmt ständig zu: 2021 waren es bereits 590’000 Gebäude. Diese Zersiedlung und Zerschneidung der Landschaft ist in den meisten Fällen nicht umkehrbar. Jedes Jahr mit vielen weiteren Bauten ausserhalb der Siedlungen verschärft das Problem. Das Parlament nahm während Jahrzehnten immer neue Ausnahmeregelungen beim Raumplanungsgesetz an, welche die Zersiedlung anheizen. Wir haben ein Ausmass an Bauten im Nicht-Baugebiet erreicht, dass dringend Änderungen nötig sind, sei es mit der Landschaftsinitiative oder sei es mit dem Gegenvorschlag im Raumplanungsgesetz

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